Wer war Jesus wirklich?

"Es ist ein religionsgeschichtliches Grundgesetz, dass jede Religion ihre Stifterfiguren verzerrt darstellt, sie erhöht und idealisiert. Man schreibt ihnen Taten zu, die sie nicht getan haben, Worte, die sie nie sagten, unterstellt ihnen Absichten, die sie nie hegten, und macht sie zu Helden, die sie nie waren. Man muss jeder Religion in dieser Hinsicht misstrauen und damit auch allen so genannten Heiligen Schriften. Denn da die Heiligen Schriften einer Religion sich schon widersprechen und mehr noch die Heiligen Schriften der Religionen untereinander, so kann man sagen: Heilige Schriften sind in besonderer Weise Zeugnisse der Unwahrheit. Das Ansehen, dass sie genießen, haben sie nicht verdient. Dabei ist es jedoch nicht ein bewusster Wille zur Täuschung, der hier wirkt. Verschwörungstheorien greifen zu kurz, die eine Religion quasi als Erfindung von Kreisen, Gruppen oder einer Herrschaftsklasse sehen will, weil diese an der Erfindung ein Interesse hätte. Es handelt sich hier weniger um Betrug als vielmehr um Selbstbetrug. Die Gläubigen werden weniger aktiv  betrogen, sondern haben viel mehr die Tendenz, sich selbst zu betrügen, sich Dinge einzureden, an die sie gerne glauben möchten, Rituale zu vollziehen, von denen sie sich Hilfe versprechen, und religiöse Führer zu verehren, die sie verehren wollen. Die Fähigkeit zum Selbstbetrug ist die entscheidende Voraussetzung für Religion überhaupt, die Quelle, aus der die schillernde Vielfalt religiöser Anschauungen und Praktiken entspringt. Angesichts Tausender Religionen mit sich widersprechenden Glaubenssätzen ist der Selbstbetrug in der Religion so sicher wie das Amen in der Kirche. Doch der Selbstbetrug hat sich als Glaubensgewissheit getarnt, er ist für die Betroffenen kaum zu erkennen und Gläubigen von Außenstehenden kaum verständlich zu machen. Nicht aus dem Willen zur vorsätzlichen Täuschung heraus haben die Evangelisten das Leben Jesu gestaltet. Vielmehr entsprang die Unwahrheit aus der religiösen Ergriffenheit, aus dem Glauben an diesen Jesus. Wenn Matthäus ein Wunder, das er bei Markus vorgefunden hat, einfach verdoppelt oder anderswie steigert, so ist dies für ihn, anders als für unser modernes Verständnis, keine Verfälschung oder Erfindung, sondern Ausdruck seines Glaubens an diesen Gottessohn, der nach seinen Vorstellungen gar nicht großartig genug geschildert werden kann. Die Bodenhaftung der religiösen Stifterfiguren nimmt deshalb mit zunehmender Verehrung ab. Dies darf für alle Religionen unterstellt werden, genauer untersuchen kann man es in den Buchreligionen, und besonders untersucht worden ist es beim Christentum und bei den neutestamentlichen Schriften.

Jesus war nicht der, als den ihn die Evangelisten und später die Kirche ausgeben. Sein Bild ist verzerrt und an nicht wenigen Stellen in sein Gegenteil verkehrt. Heute eine Binsenweisheit, den Theologen und der Forschung längst bekannt, ist diese aber noch lange nicht in den Köpfen der Gläubigen angekommen. Der Jesus der Kirche ist eine Kunstfigur, zurechtgeschnitzt von einer Vielzahl gläubiger Handwerker, zu deren wichtigsten die Evangelisten und Paulus gehörten. Das wenige, was wir von ihm wissen, muss mühsam unter den Übermalungen der Evangelisten freigelegt werden. Und was wir finden, ist wenig spektakulär.
Jesus von Nazareth muss gesehen werden als einer von vielen Vertretern eines apokalyptisch bestimmten Judentums. Über seine Kindheit und Jugend ist nichts bekannt, die wundersamen Legenden über seine Geburt verdienen diese Bezeichnung eigentlich nicht, denn es findet sich in ihnen kein historischer Kern. Allesamt sind sie fromme Erfindungen, sind nicht nur märchenhaft. Sie verdanken ihre Existenz dem verständlichen Wunsch, den religiösen Führer auch mit einer bedeutenden Geburt und Kindheit auszustatten. Kindheit und Jugend waren jedoch offenbar unspektakulär gewesen, denn als Jesus seine Wirksamkeit recht spät endlich beginnt, waren seine Verwandten keineswegs darauf vorbereitet. Sie halten ihn für verrückt und wollen ihn nach Hause holen. Viel spricht dafür, dass er in Johannes dem Täufer so etwas wie einen Mentor gesehen hat, den er offenbar bis zu seinem Tod verehrte. Man kann im Neuen Testament noch erkennen, dass die Meinung von Johannes über Jesus weit weniger enthusiastisch war. Auch hat im ersten Jahrhundert zwischen Jesus-  und Johannesjüngern noch so etwas wie eine Rivalität bestanden. Jesus kommt jedenfalls aus der Johannesbewegung, was sich auch aus den großen Übereinstimmungen zwischen dessen Lehre und der Verkündigung Jesu erkennen lässt. Wenn Jesus dessen Jünger war – trotz aller Wahrscheinlichkeit gibt es keinen direkten Beweis dafür –, so haben dies die Evangelisten jedenfalls streichen müssen, weil es bald als anstößig empfunden wurde. Sicher ist jedoch, dass Jesus von Johannes getauft worden ist und dass er sich insofern auch als Sünder sah, der dieser Taufe bedurft hat. Die Sündlosigkeit Jesu ist spätere Dogmatik und wird ihm übergestülpt wie so vieles mehr. Seine Taufe versucht die Überlieferung später zu relativieren, der Evangelist Johannes lässt sie ganz weg.

Der Kern der Verkündigung Jesu ist die Lehre von der unmittelbar bevorstehenden Gottesherrschaft, die Wende der Geschichte durch ein direktes Eingreifen Gottes und die Aufrichtung einer nicht jenseitig, sondern irdisch gedachten Königsherrschaft Gottes. Die Nähe dieser Gottesherrschaft hat schon der Täufer verkündet. Johannes und Jesus sahen sich beide als so etwas wie die letzten Warner vor diesem endzeitlichen Eingreifen Gottes. Beide hatten eine ausgeprägte Naherwartung und beide haben sich in diesem zentralen Punkt ihrer Verkündigung geirrt. Denn das Reich Gottes ist nicht gekommen, es ist auch nach 2000 Jahren nicht da. Jesu Prophezeiung war Falschprophetie.

Jesus hat wie Johannes einen Kreis von Jüngern um sich gesammelt und ist mit diesen als eine Art Wanderprediger in Galiläa herumgezogen, vorwiegend in der Nähe des Sees Genezareth. Diese Wirksamkeit hat wohl nicht länger als ein Jahr gedauert, vielleicht auch nur wenige Monate. Man wird ihm eine gewisse rhetorische Begabung zusprechen müssen sowie grundsätzlich die Fähigkeit, andere Menschen zu begeistern, denn neben dem engeren Jüngerkreis gab es offenbar viele, die ihn unterstützten, darunter auch Frauen. Seine Wirksamkeit bestand im Predigen, oft in Form von Gleichnissen und zuweilen auch in Auseinandersetzung mit den religiösen Provinzautoritäten, vor allem den Pharisäern. Doch scheint es sicher, dass die schroffe Abgrenzung zu den Pharisäern eher die Distanz der frühen Christen zum Judentum widerspiegelt als die Distanz Jesu zu ihnen.

Neben einer die Menschen bewegenden Predigtgabe hatte Jesus auch den Ruf eines Exorzisten und Wundertäters. Es wurden ihm Heilkräfte zugesprochen, Kranke suchten seine Nähe. Und vermutlich hat er selber in seinem Handeln, vor allem in den Exorzismen, eine besondere Erwählung durch Gott erkannt, vielleicht sogar eine Bestätigung der nah bevorstehenden Gottesherrschaft. Zum Passahfest verließ er seinen galiläischen Wirkungsbereich und zog mit seinen Jüngern vermutlich erstmals nach Jerusalem. Hier ist er alsbald von den Römern gekreuzigt worden. Die Gründe dafür sind unklar, es spricht jedoch einiges dafür, dass es vor allem seine Störung des Tempelkults und seine Tempelkritik und damit ein indirekter Angriff auf die sadduzäische Oberschicht waren. Diese waren sich mit den Römern einig, Störungen Einzelner anlässlich des sensiblen Festes mit Zigtausenden Pilgern sofort zu unterbinden. Die Hinrichtung Jesu erfolgte möglicherweise präventiv , er starb den Tod eines Aufrührers. Sein Tod traf Jesus vermutlich unvorbereitet und auch unbeabsichtigt, seine Jünger hat er offenbar nicht darauf vorbereitet. Sie flohen aus Jerusalem zurück nach Galiläa. Die in den Evangelien überlieferten Leidensweissagungen sind spätere Erfindungen der Gemeinde. Nach seinem Tod behaupteten seine Jünger (unklar ist wann), er sei von den Toten auferstanden. Der Ursprung des Auferstehungsglaubens besteht möglicherweise in subjektiven Visionen einzelner Jünger, unbeteiligte Zeugen hierzu gibt es offenbar keine. Die Erscheinungsgeschichten sind allesamt spätere Bildungen der Gemeinde.

Soweit die dürftigen Eckdaten zu seinem Leben, mühsam erhoben vor allem aus den synoptischen Evangelien, hier bereits stark übermalt und idealisiert, doch noch weit entfernt von späterer Verherrlichung und Vergöttlichung. Wir haben das Leben eines frühjüdischen Apokalyptikers vor uns, der ganz und gar im Judentum lebte und als Jude am Kreuz gestorben ist. Es ist das historische Grundmissverständnis der christlichen Kirchen, dass dieser Jesus von Nazareth auch nur irgendetwas mit dem Christentum zu tun hat. Und es ist eines der historischen Generalparadoxa, dass ausgerechnet er zur Stifterfigur eine Kirche wurde, die das Judentum mehr als alle anderen Religionen bekämpft und unterdrückt hat. Denn dass sich Jesus bis zuletzt als Jude verstanden und gefühlt hat, darüber besteht in der Forschung nicht der geringste Zweifel. Die Transformation Jesu zum Begründer oder zum Grundleger des Christentums war nur zu haben um den Preis einer fast gewaltsamen Umdeutung dessen, was er in seinem Innersten gewollt hat, war nur zu haben durch den Akt einer geistesgeschichtlichen Vergewaltigung. ... Nichts hat er getan, was über sein Judesein hinausweist, an den einen Gott hat er geglaubt, zu ihm hat er gebetet mit seinem Gebet, welches durch und durch ein jüdisches Gebet ist. Gottes-  und Nächstenliebe hat er gepredigt, auch dies in guter jüdischer Tradition. I n den Synagogen hat er gelehrt, von der Aufrichtung der Gottesherrschaft hat er gesprochen, in der Überzeugung von deren Nähe gelebt. Er war ein Jude unter Juden und wollte nichts anderes sein. Das Gebiet der Heiden hat er demonstrativ  gemieden. Es hat ihm alles nichts geholfen, die christliche Kirche hatte nach seinem Tode die Deutungshoheit über sein Leben und hat davon ausgiebig Gebrauch gemacht. Indem sie ihn zu ihrem Herrn machte, machte sie ihn zu einer tragischen Gestalt.

Ihn endlich und zur Gänze als frommen Juden zu akzeptieren, werden die Kirchen niemals sich bereitfinden, denn sie brauchen ihn als Sohn Gottes, der neben seinem Vater auf dem Thron sitzt. Und beides zusammen geht nicht, auch wenn aufgeklärte Christen dies auf die Reihe zu bringen meinen. ...
Wie die Gläubigen später war auch er einem Selbstbetrug erlegen, der irrigen Meinung, das Reich Gottes stünde unmittelbar bevor. Der Irrtum Jesu stellt ihn in eine lange Reihe religiöser Schwärmer, angefangen im jüdischen Bereich mit den ersten Apokalyptikern und nicht endend mit den Zeugen Jehovas, die schon mehrmals das Weltende vorhergesagt haben. Jesus steht mit seinem Irrglauben in einer Reihe mit den Schwärmern der Reformation, mit Endzeitmönchen des Mittelalters, mit ketzerischen Volksbewegungen, die, von der Kirche verfolgt, das baldige Ende der Welt verkündigten. Er steht in einer Reihe mit unzähligen Sekten, die auf das Ende der Zeiten warten, mit Pietisten, Enthusiasten, religiösen Predigern, selbsternannten Propheten, allen jenen, die des Anbruchs des neuen Äons harren. Heute noch wartet man in frommen Kreisen auf die Aufrichtung des Reiches Gottes und auf die Wiederkunft dessen, der selber vor zweitausend Jahren schon vergeblich auf dieses Reich gewartet hat. Alle dieser Vertreter einer Naherwartung, alle diese Mahner, diese Vorankündiger haben sich allesamt der Lächerlichkeit preisgegeben, zumindest im Nachhinein. Denn es war ja alles falsch. Jesus war nicht der Erste und erst recht nicht der Letzte in dieser Reihe von religiösen Endzeitpredigern. Doch er war ihr bekanntester. [...]

Wie die Kirche den Juden Jesus zum quasi ersten Christen umgebogen hat, so hat sie sich auch seine Lehre so zurechtgebogen, wie sie es brauchte. Im Ergebnis spielte es gar keine Rolle mehr, was Jesus wirklich gedacht und gesagt, was er wirklich gewollt hat. Der religiöse Glaube macht sich die Welt, gerade wie sie ihm gefällt. Es ist offenbar auch dies ein religionsgeschichtliches Gesetz: Ein Religionsstifter hat weit weniger Einfluss auf die Ausformung einer bestimmten Lehre als diejenigen, die ihn als Erste tradieren, die seine ersten Anhänger sind. Paulus hat weit mehr Einfluss auf die Ausbildung des Christentums und die christlichen Grundlehren gehabt als Jesus selbst. Und bereits Paulus hat es sich leisten können, einen völlig anderen Jesus der Welt zu präsentieren, ein Kunstprodukt seiner Fantasie. Nach dem Willen des vermeintlichen Stifters hat er nicht gefragt. Und auch die Kirche hat dies wenig interessiert, sie hielt sich eher an Paulus oder an ihre eigene Lehrtradition.

Indem die Kirche Jesu „heiligen Willen“ (Goethe) missachtete, legte sie den Grundstein für ihre eigene Existenz. Das Christentum basiert auf einem weltgeschichtlich überaus wirksam gewordenen Irrtum. Dabei sei erneut betont: Es ist kein aktiver Betrug im Sinne einer Verschwörungstheorie, es ist vielmehr ein Selbstbetrug von Gläubigen, wie er wohl am Beginn v on allen Religionen steht. Die Gläubigen haben nicht bewusst eine Religion erfunden, sie haben sich eher in religiöse Anschauungen und Überzeugungen hineingeglaubt. Aus den anfangs noch relativ  unentwickelten und vielfach noch gegensätzlichen Glaubensvorstellungen entstanden bald festere Glaubenssätze. Der paulinische Einfluss und die Dominanz des Heidenchristentums, später dann die altchristlichen Konzilien haben das Ihrige getan. Am Ende stand ein Christusbild, welches mit dem historischen Jesus nicht mehr das Geringste zu tun hatte. Die Kirchen glauben an eine von ihnen selbst geschaffene Fiktion und halten diesen Glauben für eine Tugend.

Mit Jesus hat dies nichts zu tun, und dies ist in mancher Hinsicht auch gut so. Denn sein Glaube hatte durchaus fragwürdige Züge. Er war ein religiöser Extremist, das Reich, dass er erwartete, war kein Reich des Friedens, es bedeutete ebenso Gericht. Obwohl sich in seiner Verkündigung auch humane und fortschrittliche Züge finden, ist sein Denken doch in den gängigen apokalyptischen Vorstellungen seiner Zeit gefangen. Es ist geprägt von Gerichtsgedanken und Höllenglauben, von Heulen und Zähneknirschen, erfüllt nicht nur von Gottes Gnade, sondern auch vom Leid derer, die verworfen werden. Seine Nächstenliebe, gar Feindesliebe findet ihre rasche Grenze in diesen unmenschlichen und grausamen zeitgenössischen Vorstellungen, von denen er sich offenbar nicht hat befreien können. Diese dunklen Züge seiner Verkündigung werden oft übersehen, es wird nicht wahrgenommen, „dass Jesus eine radikale Bekehrungsreligion lebte und verkündigte. Dies heißt auch: Jesus ist nirgendwo ‚lieb‘ und vertraut. Er ist kein Seelenfreund und erst recht kein ‚herzallerliebstes Jesulein‘. Er ist auch kein Kämpfer für die Solidarität mit den Entrechteten. Seine Person und Botschaft tragen durchaus autoritäre Züge.“ (Roman Heiligenthal, Der verfälschte Jesus, S. 27). Die Gerichtspredigt hat er vielleicht von Johannes dem Täufer übernommen, der mit ihr noch viel stärker hausieren ging als Jesus. Doch sie ist auch bei ihm präsent. Jeder Baum, der keine guten Früchte bringt, wird ausgerissen und verbrannt. [...]

Sieht man Jesus in den Grenzen seiner Religion, seiner eigenen Religion, wird schnell seine Begrenztheit deutlich, bei allen durchaus positiven Anschauungen, die dieser Apokalyptiker auch gehabt hat. Jesus von Nazareth dürfte die am meisten überschätzte Figur der Weltgeschichte sein." (aus Heinz-Werner Kubitza, Der Jesuswahn)