Macht´s gut und Danke für den Fisch!



Ist es egoistisch, von der Kirche eine öffentliche Entschuldigung für ihre Täuschungen zu fordern? Ist es gerechtfertigt, gläubige Mitglieder aktiv auf die Täuschung aufmerksam zu machen? Wer sich mit dem Gedanken trägt, seinen ‚Glaubensverlust‘ anderen mitzuteilen, sollte sich vorher ehrlich Rechenschaft über seine Motive ablegen. 
Da gibt es das Motiv der Rache, es der Kirche heimzahlen zu wollen. Wir können aber auch nach dem Motto „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ handeln wollen, wenn wir unser Wissen teilen, in der Hoffnung, sich nach der Mitteilung selber bestätigt und besser fühlen zu können. Beides sind verständliche aber egoistische Motive.

Im Grunde gibt es nur vier wirklich gute Motive, um den Betrug der Kirche offenzulegen: 
1. Wenn man der ehrlichen Überzeugung ist, dass ein anderer Mensch einen Anspruch darauf hat, die wahren Hintergründe zu kennen, weil dadurch sein Selbstbestimmungsrecht wiederhergestellt wird. 
2. Wenn man glaubt, dadurch die Beziehung mit dem Partner, Familienangehörigen oder Freunden retten oder wiederherstellen zu können. 
3. Wenn man seine eigene Integrität, seine psychische Gesundheit oder die des anderen und sein seelisches Gleichgewicht in Gefahr sieht. 
4. Wenn man durch die Offenlegung Schäden oder Schmerzen abzuwenden glaubt, die den Schmerz des Glaubensverlustes sowie von Zerreißproben und Beeinträchtigungen für Beziehungen überwiegen.

Man sollte sich jedoch keine Illusionen machen, was die Wirkung auf andere noch Gläubige anbetrifft. Und man sollte gut abwägen, wie und wem gegenüber ein Enthüllen angebracht ist.
In diesem Zusammenhang ist die Frage, ob eine öffentliche Entschuldigung der Kirche wirklich beim  Verzeihen der Betrogenen helfen oder nur noch mehr unnötigen Schmerz verursachen würde. Also, ob die Kirche ihren Kurs langsam und behutsam ändern oder mit einer konsequenten Maßnahme umkehren sollte.
Grundsätzlich sollte die Kirche das praktizieren, was sie den Mitgliedern lehrt, nämlich Umkehr und „tu was ist Recht, lass dich Folgen nicht sorgen“. 

Der Psychotherapeut Michael Cöllen nennt fünf wichtige Schritte im Umgang mit Betrug: 
1. Der Schmerz: Am Anfang steht die Verletzung. Es ist wichtig, dass der Betrogene und Belogene seinen Schmerz ausdrücken kann und den Verantwortlichen damit konfrontieren darf. 
2. Die Transparenz: Der Geheimnisträger muss bereit sein, über seine innersten Beweggründe zu sprechen: Wie ist das Geheimnis entstanden? Welche Erklärung gibt es dafür? Welche Muster haben dazu geführt, dass geschwiegen und vertuscht wurde? So wird das Verständnis füreinander gefördert.
3. Die Vergangenheit: Der Betrogene muss die Wahrheit offenlegen und für Aufklärung sorgen. 
4. Die Bitte: Der Betrüger muss den anderen glaubhaft um Verzeihung bitten. 
5. Die Veränderung: Wer einen Fehler gemacht hat und hofft, dass der andere ihm verzeiht, kann nicht einfach so weitermachen wie bisher. Er muss vielmehr durch ein verändertes Verhalten den anderen von seinem guten Willen überzeugen. 

Die Kirchenführer stehen dabei vor einer großen Herausforderung. Eigentlich wäre es angebracht, bedingungslos alles offenzulegen, nichts mehr geheimzuhalten, die volle Verantwortung für die Täuschungen zu übernehmen. Das heißt, sie dürfen sich nicht herausreden, sich nicht rechtfertigen, sondern müssen ehrlich bereuen und jede erdenklich Anstrengung unternehmen, um Vertrauen wieder aufzubauen. Aber sie haben Angst, damit den Großteil der Gläubigen zu verprellen.

Unabhängig davon, was eigentlich die moralische Verpflichtung der Kirche wäre, müssen wir Betrogenen einen Weg der Heilung und des Verzeihens finden. Der erste Schritt ist immer, dass der Schmerz benannt und aus der Tabuzone geholt wird. Wird die Verletzung geleugnet oder verdrängt, kommt nichts in Gang. Psychische Verletzungen müssen wie jede Wunde pfleglich behandelt und gereinigt werden. Erst dann kann man ein Pflaster draufkleben. Wenn das Opfer schnell wieder das, was passiert ist, unter den Teppich kehrt, erweist es sie sich damit keinen Dienst.  Alles, was tabuisiert wird, blockiert die Weiterentwicklung. Das Schweigen verhindert jede Auseinandersetzung und macht die Chance auf Heilung zunichte. Verzeihen ist ein Prozess, der Mut und Zeit braucht. Denn wer gerade erfahren hat, dass er durch die Kirchenführer systematisch betrogen worden ist, ist erst mal wütend und verletzt und meilenweit davon entfernt zu verzeihen.
Es ist ähnlich furchtbar, wie wenn Kindern verschwiegen wird, dass sie adoptiert sind, und sie es später herausbekommen oder wenn eine Frau mit Mitte zwanzig erfährt, dass der Mann, den sie für ihren Vater gehalten hat, gar nicht ihr Vater ist. Wer ein solches Geheimnis aufdeckt, fühlt sich ähnlich hinters Licht geführt, zweifelt an sich und der Welt und weiß nicht mehr, was er noch glauben kann
Wenn man herausfindet, dass man jahrelang betrogen wurde, verliert man die Orientierung und steht im Nebel. Quälende Fragen tauchen auf: Wer bist du überhaupt? Habe ich mir etwas vorgemacht? Wer bin ich, wenn vieles, woran ich geglaubt habe, nie gestimmt hat? Habe ich in einer Scheinwelt gelebt?
Alles, was bislang mein Leben ausmachte, wird in Frage gestellt. Wenn man entdeckt, dass man so grundlegend belogen und betrogen wurde, schwankt die Erde; man wird regelrecht von den Beinen gefegt.  Die Realisierung, dass die vormals respektierten und bewunderten Kirchenführer, denen man vertraut hat, systematisch Informationen vorenthalten und manipuliert haben, verstört, kränkt, verletzt zutiefst. Von einem Moment auf den anderen steht alles infrage: die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. In diesem Ausnahmezustand versteht man die Welt nicht mehr. Es führt zu einer Zerreißprobe in den Beziehungen, sie stellen unsere Identität infrage und verunsichern uns zutiefst. Wie konnte ich mich all die Jahre so irren? War alles eine große Täuschung? Habe ich mein ganzes Leben auf Sand gebaut? Zu allem Elend muss man sich nun auch noch dumm und gutgläubig fühlen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir nicht auf unsere Fähigkeit vertrauen können, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden. 
Die Entdeckung der Täuschung verstört also auf zweierlei Weise: Erschüttert wird das Vertrauen, das man in die Kirche gesetzt hat. Erschüttert wird aber auch das Vertrauen zu sich selbst. Man muss jedoch verstehen, dass man in einen „Zustand der Ignoranz“ gezwungen wurde, denn man kann ja nicht wissen, was man nicht weiß. Höchstens gespürt hat man, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aber weil dieses „Spüren“ äußerst unangenehm war, ging man diesem Gefühl nicht nach. Später, wenn man die Wahrheit kennt, macht man sich Vorwürfe: Hätte ich es nicht besser wissen müssen? Wie konnte ich nur so dumm sein? 
Selbstanklagende Fragen wie diese erschweren jedoch das Weiterleben nach der Wahrheit. Man sollte mit sich nicht so hart ins Gericht gehen, sondern sich stattdessen um Verständnis für sich selbst bemühen. Denn es gibt immer gute Gründe, nicht wissen zu wollen – und unsere Seele kennt Mittel und Wege, die vor zu schmerzhafter Wahrheit schützen. So ‚hilft‘ uns beispielsweise die sogenannte kognitive Dissonanz: Wenn wir einmal eine Entscheidung getroffen haben, wollen wir daran glauben, dass es eine gute war. Wir wollen über uns selbst als klug und richtig liegend denken. Eine neue anderslautende Information widerspricht diesem Glauben, stellt ihn infrage. Lassen wir diese Information zu, erleben wir einen kognitiven Zwiespalt, den wir als belastend und schmerzhaft empfinden. Deshalb wollen wir sie nicht wahrhaben. Für diesen Prozess stehen uns seelische Abwehrmechanismen zur Verfügung. Mit dem Mittel der „Verleugnung“ beispielsweise weigern wir uns – bewusst oder unbewusst –, bestimmte Situationen und Ereignisse so zu sehen und zu akzeptieren, wie sie sind. Wir biegen uns die Realität zurecht, damit sie erträglicher wird. Oder wir praktizieren den Abwehrmechanismus „selektive Wahrnehmung“ und achten nur auf das, was in unser Bild passt. 
Auch der so genannte ‚Sunk Cost Effect‘, der Effekt der versenkten Kosten, kann erklären, warum wir davor zurückschrecken, die Wahrheit aufzuspüren. Wenn man für ein Ziel, ein Projekt viel investiert und hart dafür gearbeitet hat, dann wünscht man sich verständlicherweise, dass sich das Ganze lohnt. Bemerkt man Anzeichen dafür, dass man einen Irrweg eingeschlagen hat oder die Situation eine negative Entwicklung nimmt, will man es oft nicht wahrhaben. Nach dem Motto „Jetzt habe ich schon so viel dafür getan, jetzt kann ich das doch nicht einfach loslassen“ halten wir am angestrebten Ziel fest. Wenn der Effekt der versenkten Kosten am Werke ist, blendet man wichtige Fragen aus und übergeht sein Bauchgefühl, das oft ganz anderer Meinung ist. Man will nicht wahrhaben, dass sich die Grundvoraussetzungen geändert haben, dass das gewünschte Ziel möglicherweise längst unerreichbar geworden ist und alle weiteren Anstrengungen nicht mehr fruchten. 
Wenn die Wahrheit auf dem Tisch liegt, ist das bisherige Skript unseres Lebens an einem vorläufigen Ende angekommen. Alles, was vor der Enthüllung unsere Identität geformt und den Sinn unseres Lebens definiert hat, muss im Lichte des neuen Wissens betrachtet und neu formuliert werden. Wir sind gezwungen, unser Lebensdrehbuch neu zu schreiben und den erlittenen Verrat zu integrieren. Eine Revision der eigenen Geschichte steht an. 

Wie wichtig ein Perspektivenwechsel nach einem schwerwiegenden „Ereigniseinbruch“ ist, betonen die Psychologen Charles S. Carver und Michael F. Scheier. Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Thema ‚Scheitern‘ auseinandergesetzt und stellen fest: „Wenn ein Weg verschüttet ist, wird ein anderer sichtbar. Indem ein nicht erreichbares Ziel aufgegeben wird, gleichzeitig aber ein anderes gewählt wird, bleibt die Person in einer Vorwärtsbewegung. Das Leben hat weiterhin einen Sinn. Die Bereitschaft, einen Wechsel vorzunehmen, wenn die Umstände es erfordern, ist eine wichtige menschliche Stärke.“ Die Wahrheit zu kennen, auch wenn man sie noch so sehr fürchtet, ist besser als an der Selbsttäuschung festzuhalten. Man muss keine Angst vor der Wahrheit haben, wie sehr sie auch verletzen mag. Das Leben geht weiter. Wir können das Gute aus der Kirche bewahren und uns neu erfinden, neu definieren. Wir sind dann stärker, weil wir um unsere Schwächen und eingebauten Selbsttäuschungsmechanismen wissen. Wir können gleichzeitig mit Gläubigen und Abtrünnigen mitfühlen und uns in sie hineinversetzen. Wir können uns von weiteren Dogmen, Märchen, Wunschglauben, Ideologien, Vorurteilen usw. befreien. Wir können der Kirche in Gedanken den Mittelfinger zeigen und sagen: „Fuck you!“ oder auch etwas dezenter: „Macht’s gut und danke für den Fisch!“ in Anlehnung an Douglas Adams Meisterwerk ‚Per Anhalter durch die Galaxis‘ (Teil IV).

Warum manche dabei bleiben

Die Erkenntnis, dass die Kirche unwahr ist beziehungsweise dass einem über Jahrzehnte hinweg Falsches gelehrt wurde, kann schleichend kommen. Oder es haut dich um wie ein Hammerschlag: In beiden Fällen gibt es den einen Zeitpunkt, an dem dir klar ist: Das war’s. Du hast dich täuschen lassen.

Anderen gelingt es hingegen, die Fragen und Zweifel wegzudrücken. Da fragt sich der Glaubensverlierer: Wie schaffen die das nur? Ein Erklärungsversuch:

‚Never change a running system’

Etwas zu ändern, was lange Zeit ‚funktioniert‘ hat, braucht einen immensen Energieaufwand. Sein Leben nach einem Glaubensverlust neu zu sortieren, kann mit das Schwerste sein, was man im Leben stemmen muss. Denn es gibt da eine Eigenschaft, die in uns allen tief verwurzelt ist: Wir fürchten Veränderungen. Wir verlassen einen einmal eingeschlagenen Weg nur ungern, auch wenn er uns in die Irre führt. 

„Ein belgischer Rentner wollte mit seinem Auto Brötchen holen. Er bog falsch ab und landete auf der Autobahn. Statt anzuhalten, sich in Ruhe zu orientieren, fuhr er einfach immer weiter. Erst der leere Tank seines Autos stoppte ihn. Das war in Deutschland, auf der A3 bei Waldaschaff, 400 Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Die Polizei wurde auf ihn aufmerksam, weil er sein Auto auf dem Standstreifen abgestellt hatte und zu Fuß weiterlief – in Badeschlappen. 
Solche Geschichten kann man immer wieder in der Zeitung lesen. Zugegeben: Es sind eher verwirrte Senioren, denen das passiert und die dann von ihren erschrockenen Familienangehörigen wieder abgeholt werden müssen. Ich denke aber, dass gerade im Alter das zutage tritt, was zuvor nur mit einer hauchdünnen Schicht Rationalität überdeckt ist: das Bestreben jedes Menschen, den einmal eingeschlagenen Weg auch weiterzugehen. Ohne nach links und rechts zu schauen. So läuft man erst gar nicht Gefahr, sich eingestehen zu müssen, in der falschen Richtung unterwegs zu sein. Und kann sich der Illusion hingeben, alles sei bestens. Selbst wenn der Weg noch so weit vom eigentlichen Ziel wegführt oder das Ziel seinen Sinn verloren hat – Hauptsache, es bleibt so, wie es ist.“ 

Diszipliniert an seinen Zielen festzuhalten und sich nicht gleich beim ersten Fehlschlag davon abbringen zu lassen, hat ja durchaus seinen Sinn. Manchmal ist es richtig, diszipliniert auszuharren. Manchmal ist es aber angebracht, lieber einen Neuanfang zu wagen. Besonders, wenn sich die Grundlage dessen, was man bislang verfolgt hatte, als unsinnig, falsch oder überholt erwiesen hat. 

Und natürlich muss man mit Trennungsschmerzen rechnen. Besonders, wenn man in der Vergangenheit so viel in den Glauben investiert hat, fällt es so unheimlich schwer, all das in den Wind zu schießen. Sollen denn all die Jahre umsonst gewesen sein? All die Versammlungen, Aktivitäten, Zehntengelder? Außerdem muss ich mir dann eingestehen, mich geirrt zu haben. Ich als intelligenter, mündiger, gebildeter, kritischer Mensch habe mit tiefstem Herzen an etwas Falsches geglaubt, habe mich manipulieren lassen, bin einem Schwindel aufgesessen. Dabei habe ich mich immer über hörige Sektenanhänger gewundert und den Kopf über die Anhänger der Zeugen Jehovas & Co. geschüttelt. Kann ich denn wirklich so blind gewesen sein? So naiv, dass ich das nicht tiefgehend hinterfragt habe? Sondern alle Behauptungen einfach geschluckt und jedes Anzeichen von Dissonanz und Widersprüchen ignoriert habe? Natürlich war ich nicht wirklich ein Fundamentaler, sondern habe mich immer als liberal und aufgeklärt empfunden. Natürlich habe ich nicht alles wortwörtlich genommen und mir meine eigenen Gedanken gemacht. Aber dass das alles ein Trugbild sein könnte? Alles das Produkt eines genialen und zugleich wirren Geistes und schließlich einer systematischen Schönfärberei und Vertuschung? Das rüttelt am eigenen Selbstbild. Das lässt sich nicht so leicht verdauen. Sich das einzugestehen, ist ein schwieriger, schmerzvoller Schritt. Ich habe aufs falsche Pferd gesetzt, bin denen auf den Leim gegangen, habe tatsächlich so etwas mal geglaubt.

Zu sich ehrlich sein, seinen Irrtum einzusehen, einen neuen Weg einschlagen, das erfordert also Mut und Stärke. Andererseits macht manch einer auch einfach weiter, obwohl es ihm wahnsinnig schwer fällt.

Ausharren bis ans Ende

„Im Juli 2008 starteten beim Zugspitz-Extremberglauf 585 Läufer. 16 Kilometer, 2100 Meter Höhendifferenz. Es regnete, die Temperatur war alles andere als sommerlich und der Wind biss. Nach einiger Zeit wurden Schneeschauer daraus. Plötzlich war die Laufstrecke mit 10 Zentimeter Schnee bedeckt. Im Juli! Manche Läufer brachen ihren Lauf ab. Andere machten weiter; in kurzen Hosen, ohne Mütze, in ärmellosen Hemden. Nichts konnte sie stoppen. Das Ergebnis: Sechs der Teilnehmer mussten im Garmisch-Partenkirchener Klinikum mit schweren Unterkühlungen behandelt werden. Zwei Läufer starben entkräftet und durchgefroren – knapp unterhalb des Gipfels. 
„Die Sportler (haben) oben natürlich den starken Willen, den Lauf zu Ende zu bringen“, sagte der Mediziner Markus de Marees, der als Höhenphysiologe an der Deutschen Sporthochschule in Köln arbeitet, in einem Interview der Frankfurter Zeitung. Und genau das ist die Haltung: Was ich angefangen habe, bringe ich auch zum Ende. Diese Haltung ist es, die die Entscheidungskraft lähmt und verhindert, die Konsequenzen zu ziehen, die der Situation angemessen wären.“

Trotz der Erkenntnisse über Joseph Smiths Polygamie, Aberglauben, Freimaurertum und Welteroberungsambitionen, trotz Problemen mit der Historizität von Buch Mormon und Buch Abraham, trotz der vielen Widersprüche und schädlichen Lehren über Homosexualität und Keuschheit der Kirche treu zu bleiben hat viel mit Aushalten zu tun. Wer sich abwendet, muss hingegen aushalten, seine komplette Weltsicht zu kippen. Sein bisheriges Ziel im Leben in Frage zu stellen. Aushalten muss man auch, die Erwartungen der anderen zu enttäuschen.  Schwer ist es, die Erfahrung zu machen, dass deine bisherigen ‚Geschwister‘ sich von dir abwenden. Das tut weh. Auf einmal sind wir aus der Gruppe der Gläubigen ausgeschlossen, zu der wir bisher meinten fest dazuzugehören.

Einmal gut, immer gut

„Süße Teddys, knuddelige Hündchen, freche Mäuse – die vierjährigen Kinder sind begeistert. Ein jedes, das an der Versuchsreihe der amerikanischen Yale-University teilnimmt, darf sich eines der Stofftiere mit nach Hause nehmen. Dazu dürfen sie zuerst aus dem Berg der Spielzeugtiere drei auswählen, die für sie in Betracht kommen. Mit großem Ernst wird die Auswahl vorgenommen: Das Kätzchen mit dem samtweichen Fell? Nein, das hat so doofe Augen. Lieber den braunen Bären. Abschätzende Blicke, abwägen und entscheiden. Dann liegen die drei Kandidaten unter den begehrlichen Augen der Kleinen auf dem Tisch. Der brummige Bär, der Fisch, der sich so gut unter den Arm klemmen lässt, und der Hund mit den extralangen Ohren. Nun muss das Kind eines der drei weglegen. Das dauert. Es ist so schwer, sich zu entscheiden! Nach langem Hin und Her wird der Fisch mit großem Bedauern wieder zurückgelegt. Nun gilt es, sich zwischen dem Hund und dem Bären zu entscheiden. Die langen Ohren geben den Ausschlag: Der Bär kommt wieder auf den Haufen, der Hund wartet darauf, liebevoll an die Brust gedrückt zu werden. Alles in Butter also, die Entscheidung ist gefallen. Jetzt aber legen die Psychologen Louisa C. Egan, Laurie R. Santos und Paul Bloom dem Kind noch einmal den zuvor weggelegten Fisch auf den Tisch und sagen, dass es sich noch einmal zwischen Fisch (Platz 3) und Hund (Platz 1) entscheiden darf. Und obwohl es den Kindern anfangs so schrecklich schwer gefallen war, die Auswahl zu treffen, wird in ausnahmslos allen Fällen der Fisch wieder verworfen. Der Hund wurde gewählt und es bleibt dabei. 
Dieser an der amerikanischen Yale-University im Jahr 2007 durchgeführte Versuch stieß auf weltweites Interesse. Er zeigt, dass schon vierjährigen Kindern der Hang zum Selbstbetrug in den Knochen steckt. Sie bleiben strikt bei ihrer Wahl, obwohl auch die Alternative durchaus in Frage kommt. Selbstbetrug? Wieso das denn? Wissenschaftler sprechen von dem Prinzip der Kohärenz: Alles ist tiptop im Leben, keine losen Enden, alles fügt sich zusammen. Jedes Puzzleteil ist an seinem Platz. Um das zu erreichen, wendet das Gehirn einen Trick an: sekundäre Rationalisierung. Mit nachträglichen Begründungen plausibilisiert es getroffene Entscheidungen. Das funktioniert wunderbar – auch wenn die Gründe manchmal ganz schön weit hergeholt sind. Das fängt beim Kauf teurer Schuhe an. „Die halten länger.“ Die sekundäre Rationalisierung ist ein Programm, das zunächst einmal sinnvoll erscheint. Es sagt dir: Du kannst dich auf dich verlassen. Wenn Zweifel gar nicht zugelassen sind, Alternativen ausgeblendet werden, dann gibt das Sicherheit. Eigentlich ist es ganz angenehm, wenn man von Geburt an so gepolt ist, dass das, wofür man sich einmal entschieden hat, auch das Beste bleibt. Dann kommen erst gar keine negativen Gefühle wie Zweifel auf: „Wäre es vielleicht doch besser gewesen, den Fisch zu nehmen? Ist der Hund wirklich der Schönste?“ Mit einem „Jetzt, wo ich ihn habe, ist es ganz klar: Der Hund ist viel schöner als alle anderen“ lebt es sich weitaus bequemer. 
Der Grund, warum dieses Denken so gut funktioniert: Wenn alles, was du nicht gewählt hast, minderwertig ist, dann ist für dich alles bestens. Dann gibt es keine Alternativen zu dem, was du ohnehin tust und bist. Mit anderen Worten: Es gibt gar keinen Anlass, etwas zu ändern, also Entscheidungen zu treffen. Es kann alles so bleiben, wie es ist. Das ist eine sehr konservative Denk- und Handlungsweise. Das Gewohnte, das Bekannte hat Macht über uns. Es verschleiert den Blick auf die Realität. Platz für Neues ist da nicht. Sich einmal auf etwas alternativlos festzulegen, ist der Auslöser einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Du sagst, die Salami vom Feinkosthändler XY sei die beste, dann wird sie es auch sein. Denn du kaufst ja gar keine andere mehr, mit der sie einen Vergleich aushalten müsste.“ 

Das bringt natürlich einen Vorteil – auch wenn es noch so irrational, unsinnig oder drittklassig ist. Du nimmst das, was du immer nimmst. Du musst dich nicht mit Zweifeln auseinandersetzen, ob das, was du hast, wirklich das Richtige, wirklich wahr ist. Du bist es gewohnt. Das ist komfortabel. Das ist bequem. Du musst nicht lange nachdenken, musst dich nicht wirklich mit unterschiedlichsten Glaubensansichten beschäftigen. Wer stellt schon alles, woran er glaubt, in Frage? Wer macht sich die Mühe und studiert die Literatur zur Historizität von Jesus? Oder gar religiöse Schriften der Hindus oder Buddhisten, wenn er doch weiß, dass das Buch Mormon wahr ist? Dann muss ich mich nicht einmal mit den umfangreichen Joseph Smith Papers beschäftigen. Das hat mir dankenswerter Weise der Heilige Geist erspart, wo er mir doch immer wieder ein so warmes, gutes Gefühl in meinem Glauben schenkt. All die genannten Vermeidungs- und Selbsttäuschungsmechanismen zahlen also auf zweierlei ein: Trägheit und Feigheit. Aus Trägheit bleibst du bei deinem Glauben, egal was. Aber du gestehst dir das nicht ein. Du rationalisierst dir dein Verbleiben, findest dankbar scheinbar rationale Gründe. Bloß nichts ändern, bloß nicht die Möglichkeit ernst nehmen, dass du dich all die Jahre hast blenden lassen. Vielleicht findet sich ja doch noch eine nephitische Spur in Zentralamerika oder ein bisschen israelitische DNA in den Anden. Vielleicht erhalten die Apostel und Propheten zur Abwechslung mal wieder eine Offenbarung, womit sie zeigen, dass sie ihrer Zeit voraus oder wenigstens auf der Höhe der Zeit sind. Vielleicht kommen aber auch Polygamie und Tieropfer wieder. Wenn dann noch Schlagzeug und E-Gitarre im Gottesdienst Einzug halten, bin ich vielleicht wieder dabei. Nein, man muss auch mal gut sein lassen und mit der Vergangenheit abschließen. Das gelingt mir bestimmt demnächst, habe schließlich schon alle meine Kirchenbücher zum Altpapier gebracht. Kleiner Mutmacher an all die Zögerer und Verdränger: "Einen Wahn verlieren macht weiser als eine Wahrheit finden." (Ludwig Börne, 1786-1837)

Worte der Weisheit



Zur Hitparade der unsinnigsten oder unmoralischsten Gebote im Alten Testament gehören sicherlich:

„Ihr sollt euer Kopfhaar nicht rundum abschneiden.“ (Levitikus 19:27)
„Wenn zwei Männer, ein Mann und sein Bruder, miteinander raufen und die Frau des einen hinzukommt, um ihren Mann aus der Gewalt des andern, der auf ihn einschlägt, zu befreien, und wenn sie die Hand ausstreckt und dessen Schamteile ergreift, dann sollst du ihr die Hand abhacken. Du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen.“ (Deuteronomium 25:11-12)
„Hat eine Frau Blutfluss und ist solches Blut an ihrem Körper, soll sie sieben Tage lang in der Unreinheit ihrer Regel verbleiben. Wer sie berührt, ist unrein bis zum Abend. Alles, worauf sie sich in diesem Zustand legt, ist unrein; alles, worauf sie sich setzt, ist unrein.“ (Levitikus 15: 19-20)
„In die Versammlung des Herrn darf keiner aufgenommen werden, dessen Hoden zerquetscht sind oder dessen Glied verstümmelt ist.“ (Deuteronomium 23:2)
„Der Herr sprach zu Mose: Sag zu Aaron: Keiner deiner Nachkommen, auch in den kommenden Generationen, der ein Gebrechen hat, darf herantreten, um die Speise seines Gottes darzubringen. Denn keiner mit einem Gebrechen darf herantreten: kein Blinder oder Lahmer, kein im Gesicht oder am Körper Entstellter, kein Mann, der einen gebrochenen Fuß oder eine gebrochene Hand hat, keiner mit Buckel, Muskelschwund, Augenstar, Krätze, Flechte oder Hodenquetschung. Keiner der Nachkommen Aarons, des Priesters, darf herantreten, um die Feueropfer des Herrn darzubringen, wenn er ein Gebrechen hat. Er hat ein Gebrechen, er darf nicht herantreten, um die Speise seines Gottes darzubringen. Doch darf er von der Speise seines Gottes, von den hochheiligen und heiligen Dingen, essen, aber nicht zum Vorhang kommen und sich nicht dem Altar nähern; denn er hat ein Gebrechen und darf meine heiligen Gegenstände nicht entweihen; denn ich bin der Herr, der sie geheiligt hat.“ (Levitikus 21:17-23)

In Teilen sehr widersinnig sind auch die diversen alttestamentlichen Essensvorschriften, die bis in Details gehen, wie viele Beine und Flügel Insekten haben dürfen, um gegessen werden zu können.

All das soll sich aber im Neuen Testament geändert haben:

„Petrus aber antwortete: Niemals, Herr! Noch nie habe ich etwas Unheiliges und Unreines gegessen. Da richtete sich die Stimme ein zweites Mal an ihn: Was Gott für rein erklärt, nenne du nicht unrein!“ (Apostelg. 10:14-15)

Durch eine Vision soll also Gott Petrus vermittelt haben, dass so wie es keine reinen und unreinen Nahrungsmittel mehr gibt, es auch keine Unterscheidung mehr zwischen reinen und unreinen Völkern – also Juden und Anderen – geben soll.

Und hier wird es noch deutlicher:

„Nehmt den an, der im Glauben schwach ist, ohne mit ihm über verschiedene Auffassungen zu streiten. Der eine glaubt, alles essen zu dürfen, der Schwache aber isst kein Fleisch. Wer Fleisch isst, verachte den nicht, der es nicht isst; wer kein Fleisch isst, richte den nicht, der es isst. Denn Gott hat ihn angenommen. Wie kannst du den Diener eines anderen richten? Sein Herr entscheidet, ob er steht oder fällt. Er wird aber stehen; denn der Herr bewirkt, dass er steht. Der eine bevorzugt bestimmte Tage, der andere macht keinen Unterschied zwischen den Tagen. Jeder soll aber von seiner Auffassung überzeugt sein. Wer einen bestimmten Tag bevorzugt, tut es zur Ehre des Herrn. Wer Fleisch isst, tut es zur Ehre des Herrn; denn er dankt Gott dabei. Wer kein Fleisch isst, unterlässt es zur Ehre des Herrn, und auch er dankt Gott. Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber:
Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende. Wie kannst also du deinen Bruder richten? Und du, wie kannst du deinen Bruder verachten? Wir werden doch alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Denn es heißt in der Schrift: So wahr ich lebe, spricht der Herr, vor mir wird jedes Knie sich beugen und jede Zunge wird Gott preisen. Also wird jeder von uns vor Gott Rechenschaft über sich selbst ablegen.“ (Römer 14:1-12)

Es soll schlichtweg keine allgemeingültigen Ge- und Verbote in Bezug auf Essen oder Sabbatheiligung mehr geben, keine Regeln, wie kurz Röcke sein dürfen, ob Bärte oder Bikinis okay sind und all das. Jeder soll für sich persönlich entscheiden, was für ihn richtig ist, und nicht über Andere urteilen.

Die Mormonenkirche ist hingegen wieder ins alttestamentliche Fahrwasser der kleinteiligen Vorschriften zurückgekehrt im klaren Widerspruch zum Neuen Testament. Wobei auch ein Joseph Smith ursprünglich mal erklärt hat, er lehre nur die Prinzipien und die Mitglieder würden sich darauf basierend selber regieren. Daher hat er auch fröhlich Wein getrunken, so auch kurz vor seiner Ermordung im Gefängnis von Carthage.

Dementsprechend sollte bei den Mormonen eigentlich nur über die Prinzipien des Wortes der Weisheit gesprochen und keine Liste von erlaubten und verbotenen Substanzen aufgestellt werden. So würde es nicht dazu kommen, dass Mitglieder zwar gesunden grünen Tee meiden, dafür aber süße Limonadegetränke konsumieren, oder sich darüber streiten, ob koffeinhaltige Getränke, wenn kalt serviert, koscher sind.

Und dann könnten Mitglieder auch ohne schlechtes Gewissen neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Gefahren und Nutzen berücksichtigen, etwa zu den positiven Auswirkungen von Kaffee:

In diesem Sinne Prosit oder guten Appetit!